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Der Kuss. Die Küsse. Das Küssen

 

„Der Kuss“ – nicht zwei Liebende zeigt der Maler Gustav Klimt in seinem berühmten Ölgemälde von 1908/1909. Es offenbart das Wesen des Kusses selbst. Die Idee. Der ursprüngliche Titel des Gemäldes lautete „Das Liebespaar“. Als „Der Kuss“ wurde es zum heiligen Bild der Liebe, zur Ikone einer goldenen Zeit. Unzählige Verliebte pilgern auch heute noch in die Österreichische Galerie Belvedere in Wien vor das Klimt’sche Gemälde. Jüngere halten sich an den Händen, sehnsuchtsvoll, auch begehrend der Blick. Durchaus animiert, dem Anblick die Tat folgen zu lassen. Die Älteren fassen manchmal nach der Hand, vielleicht in Erinnerungen schwelgend, mal zärtlich das Gegenüber anblickend, mal schmerzhaft in die Ferne schauend. Mal erlaubt einer sich einen Handkuss, verschämt, auf die dargebotene Hand. So jedenfalls ist der Eindruck, wenn man sich etwas länger im Belvedere tummelt, und die Besucherinnen und Besucher beobachtet. Lang aufeinander bezogene Paare küssen sich nicht mehr unbedingt so. Es sei ein „Stempelkartenkuss“, den sie sich noch gönnen würden. „Sie checken in die Beziehung ein, sie erfüllen ihre Pflicht“, beschreibt Horst Wenzel, Gründer der Flirtakademie in Köln, dieses Tun. Wenzel bringt verdorrten Mündern wieder die Leidenschaft bei. Er ist Philematologe, interpretiert menschliches Kussverhalten. Er wird also wissen, was uns Klimt mit seinem „Kuss“ sagen will.

Symbol und Sinn des Kusses
„Man unterscheidet den ersten Kuss und all die anderen“, konstatiert Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III an der Universität Ulm. Auch er veröffentlicht zur Philematologie. So nennt sich die Wissenschaft, die das Küssen erforscht. Sie ist interdisziplinär aufgestellt, Kultur- und Geisteswissenschaft paaren sich mit Erkenntnissen aus Psychologie und Medizin. Psychologen, Endokrinologen, Immunologen und Neurobiologen widmen sich dem Sachverhalt. Es wäre Unrecht, einen Kuss nur auf seine biologische Sinnhaftigkeit zu reduzieren. Doch wissenschaftlich beschrieben handelt es sich beim Kuss um den lustvollen Austausch von Bakterien. Der Vorgang des Küssens ist komplex: 146 Muskeln verschiedener Schichten werden aktiviert. 24 Gesichtsmuskeln, 112 Körpermuskeln. Jochbeinmuskel und Oberlippenheber gehen nach oben, zugleich ziehen Unterlippensenker und Mundwinkelsenker nach unten und kontrahieren den Musculus orbicularis oris – den Ringmuskel des Mundes. Zwei Drittel aller Menschen neigen den Kopf beim Küssen nach rechts, weil sonst die Nasen im Weg sind. Insgesamt, so behaupten Neuropsychologen, stimuliert das Küssen das cerebrale Glückszentrum. Außerdem haben Forscher herausgefunden: Menschen, die viel küssen, leben länger. 

Darum küsse, wer sich ewig bindet ...
Was sich nach einer verspielten Variation des Schiller-Zitates „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet. Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang“ anhört, ist eine höchst wissenschaftliche Empfehlung. Der erste Kuss unterscheidet sich qualitativ von allen anderen, denn Küssen funktioniert wie ein neurobiologischer Mechanismus. Zuallererst dient es als Test zur Qualität des Partners. Schlechter Atem und Mundgeruch wären Kussbremsen, würden Krankheiten signalisieren. Aber, wichtiger ist, dass vom Geschmack des Kusses für Frauen offenbar die Kompatibilität des eigenen Erbguts mit dem des möglichen Partners ableitbar zu sein scheint. Frauen haben, weil sie die Schwangerschaft austragen, bei der Partnerwahl sorgfältig zu sein. Während der Ovulation ist vielleicht genau darum ihr Geruchssinn um ein Vielfaches sensibler. Frauen setzen auf die Macht des Kusses. Deutlich mehr als Männer. Studien zeigen auch, dass 66 Prozent der Frauen nach einem inkompatiblen Kuss kein Interesse mehr an ihrem Gegenüber haben. Für Männer geht Sex auch ohne Küssen. Sie küssen zielgerichtet, so die Studienlage, um Sex zu haben. Denn, und damit ist man beim zweiten wichtigen Punkt, Küssen führt zu sexueller Erregung, weil das im Speichel enthaltene Sexualhormon Testosteron bei Männern und Frauen gleichermaßen verstärkend auf die Libido wirkt. Es wird ohne Firstpass-Effekt direkt über die Wangenschleimhaut resorbiert. Und drittens: Küssen reduziert die Konzentration des Stresshormons Cortisol im Blut und führt zur Ausschüttung des Peptidhormons Oxytocin, das psychologische Bindungsprozesse verstärkt. Bei Männern führt das Küssen zu einem deutlichen Anstieg des Oxytocin. Je mehr geküsst wird, desto enger entwickelt sich die Beziehung. Umgekehrt, so Forscher, ist festzuhalten: Zeigt der Mann kein Verlangen nach Küssen, verfolgt er andere Interessen. Es gehe dort, wo nicht geküsst wird, nicht um Beziehung, sondern um Trophäentum oder Vertragsklauseln. Ein Grund kann der große Unterschied des Alters sein, ein Sugar-Date habe andere Zielsetzungen. Der Kuss als Qualitätstest gerät so außerhalb der ursprünglichen Idee. Auch die käufliche Liebe verlaufe ungeküsst, heißt es. Es geht da selten um Bindung, sondern eher um Dienstleistung. Man erinnere sich nur an die Szene in der Hollywood-Romanze „Pretty Woman“ als Vivian (Julia Roberts) Edward (Richard Gere) den Kuss auf den Mund verweigert. Als sie es doch tun, ist das Happy End programmiert. Filmküsse waren in Hollywood übrigens lange Zeit durch einen Kodex geregelt: Nicht länger als 3 Sekunden beziehungsweise 2,15 Meter Filmrolle sollte er dauern. Früher. Seit Bilder digital aufgezeichnet werden, gibt es darüber keine Informationen mehr. Die Vermutung liegt nahe, dass sich mittlerweile kein Regisseur mehr an solcherlei Vorgaben hält.

Ein Kuss ist nie nur ein Kuss
Es gibt den Kuss in vielerlei Art. Im Film, beim Happy End, wird der Kuss als Siegel gesehen. Im Hörspiel funktionieren Küsse übrigens selten. Das Geschmatze will keiner hören. Einen Kuss kann süß, sanft, zärtlich, liebevoll, köstlich, heiß, feucht, feurig, unzüchtig, keusch, ungestüm, widerwärtig, leidenschaftlich und vieles mehr sein. Ein Kuss führt zum anderen, ein Kuss ist Austausch und Geschenk. Ob ein Kuss gegeben oder genommen wird, ist selten eindeutig zu beschreiben. Ein Satz wie „Fräulein, zürnet nicht, wenn der Kuss euch nicht genehm, so gebt ihn mir zurück“, gehört wohl immer schon zur Doppeldeutigkeit des Witzes. Überhaupt sind die gestohlenen Küsse oft nur der Auftakt zu dem, auf das es dann hinausläuft. Rote Lippen will er küssen, behauptet ein Schlagertext. Das Zulässige an verführerischen Küssen war allerdings über die Jahrhunderte deutlich zum Vorteil der Männlichkeit ausgelegt. Hatte früher die Braut den Gatten mit rot geschminkten Lippen zum ersten Kuss verführt und er war später nicht mehr von der Ehe überzeugt, so konnte diese annulliert werden. Das Gesetz wurde 1770 vom englischen Parlament verabschiedet. Ein Kuss ist eben nie eine Lappalie. Ein Kuss lässt die Herzen höherschlagen. Im Kuss begegnen sich Körper und Seele. Küsse verlangen ein Du. Ins Leere küssen, macht traurig. Trösten kann ein Kuss durchaus. Es gibt den Friedenskuss, den Judaskuss, den Versöhnungskuss. Den Erweckungskuss, wie bei Schneewittchen oder den Drachenkuss, eine Kombination aus Kuss und Biss. Der Ellbogenkuss gilt als Metapher, dass etwas unmöglich erreichbar sei. Küsse auf den Hals sind eindeutig erotisch gemeint. Und dann sind da noch die Küsse der Sonderform, wie Cunnilingus und Fellatio und Todesküsse, die den andern gar ersticken. Sei es durch allergene Stoffe, die auch durch Zähneputzen nicht verschwinden, oder weil einer, wie Kaiser Nero, dem Feind per Kuss den Atem nimmt. 

Kulturelle Mund-Propaganda
Die Philematologen unterscheiden zwei Grundformen des Kusses: Den Adorationskuss und den Atzkuss. Der Erste hebt den oder das Geküsste in eine andere Sphäre. Da werden Bücher (zum Beispiel die Bibel), Gefäße (Monstranz oder Pokale), Orte (der Heimatboden nach dem Flug) oder Ringe (Würdenträger) geküsst. Hand- und Fußkuss gehören auch in diese Kategorie. Wobei es sich beim Fußkuss um eine Geste der Unterwerfung handelt und auch der Handkuss eine Zeit lang als Zeichen der Erniedrigung gewertet wurde, bevor er heute als Galanterie anerkannt wurde. Die zweite Kussform habe sich aus der Mund-zuMund-Fütterung wie es sie im Tierreich gibt, entwickelt. Der Nachwuchs wird beschnäbelt, geatzt und irgendwie verpflegt. Die zentrale Rolle des Mundes wird hier auf die Nahrungsaufnahme reduziert, aber auch auf seine Fähigkeit zu berühren und Kontakt herzustellen. Der Mund ist die primäre Lustquelle des Säuglings. Später ist hier die Sehnsucht, den Geliebten mit den Lippen zu berühren angesiedelt. In der Literatur formuliert sich das in Sätzen wie „es dürstete sie nach ihm“, oder „Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes; denn deine Liebe ist lieblicher als Wein“, singt das Hohelied Salomons in der Bibel. 

Küsse für die ganze Welt
Ganz anders ein kalter Kuss. Er lässt schaudern und bei derlei Küssen ist es zum Vampirismus nicht weit. Der Kuss mündet in einem Biss, der den Lebenssaft aussaugt, ohne etwas zurückzugeben. Im chinesischen Kulturkreis galt das Küssen lange als Relikt des Kannibalismus. Es gibt noch einige andere Kulturen, die dem Küssen nicht dieses Sinnliche und Sinnhafte zuschreiben, wie es im europäisch geprägten Kontext stattfindet. Ungeküsst durchs Leben zu gehen, scheint hier schier unerträglich. Küsse seien das, was von der Sprache des Paradieses übrigblieb, mutmaßt Joseph Conrad in seiner Erzählung „Herz der Finsternis“. Vielleicht dichtete Friedrich Schiller darum als zukunftsfrohes Versprechen in seiner „Ode an die Freude“: „Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Gustav Klimt verwendet Schillers Satz für das Liebespaar im „Beethovenfries“. Und das Gemälde „Der Kuss“ gehört tatsächlich der ganzen Welt. Es wurde zum kulturellen Allgemeingut Europas. Zu Klimts Lebenszeit provozierten seine Werke heftige öffentliche Debatten. Man stritt über den Grad der Zumutbarkeit von Erotik und Hässlichkeit in der Kunst. Gleichzeitig giertedas Bürgertum nach dem Maler, gerade wegen der erotischen Ausstrahlung seiner Porträts. Jahrzehnte später wurden sie als dekorative Gemälde konsumiert und dadurch etwas entwertet. Unbenommen bleibt, wie richtungsweisend sie für die moderne Malerei wurden. Und, die Kunstkritik fand einen weiteren Weg der Interpretation. „Der Kuss“ wurde ins Metaphysische gehoben. Das Paar auf der Wiese sei der Sonnengott, der die Erde küsst. Der mit Goldstaub übersäte dunkle Hintergrund soll die Weite des Weltalls ausdrücken, das Licht des Goldes befruchtet das
Land. „Der Kuss, den der Sonnengott der Erde zuteilwerden lässt, drückt nichts anderes aus, als dass durch die tägliche Wiedergeburt des Sonnengottes auch die Erde wiedergeboren wird. Das tägliche Erscheinen sichert das Weiterleben (...) macht ein ewiges Leben möglich“. Mystische Vorstellungen des alten Ägypten seien hier miteingeflossen. Im „Kuss“ zeige sich die symbolhafte Darstellung der Wiedergeburt.

Oder geht es doch nur um das Eine?
Horst Wenzel war vor Kurzem in Wien und hat sich das Gemälde im Belvedere angesehen. Drei körpersprachliche Signale hält er in dem Gemälde aus philematologischer Sicht für bemerkenswert. Erstens, der linke Arm der dargestellten Frau liegt unter dem des Mannes. Sie hält ihren Arm somit schützend zwischen ihr Herz und den küssenden Liebhaber. Das tun Liebende in der Regel nicht. Es ist eher eine übliche Szene bei einem ersten Kuss, bei dem noch Unsicherheit über das gegenseitige Einvernehmen besteht. Diese Annahme unterstützt ein zweites Merkmal. Die Frau versucht, mit ihrer linken Hand Kontrolle über seine Hand zu bekommen, umgreift diese von innen her. „Das ist eine sehr unnatürliche Reaktion auf einen Kuss, die mich eher an eine Abwehrgeste erinnert“, sagt Wenzel. Und, drittens, die Frau zeigt eine stark erhöhte Körperspannung, angewinkelte Füße und hochgezogene Schultern. „Eine Geliebte, die mehr will, zieht ihren Liebhaber zu sich heran, statt ihren Arm als Barriere vor ihm aufzubauen.“ Dagegen umschlingt leidenschaftlich und dominant der Küssende die geküsste Protagonistin. Er führt erkennbar ihren Kopf. Seine Lippen verfehlen ihren verschlossenen Mund. Wahrscheinlich gibt sie dem Liebhaber ihren verletzlichen Hals nicht freiwillig frei. Das Momentum erzeugt eine große Regung bei ihr, sichtbar an dem Aneinanderreiben ihres Daumens und Zeigefingers ihrer rechten Hand hinter seinem Kopf. Das kann von ihr sowohl eine Nervositätsgeste als auch ein Ausdruck der Erregung sein. Das Paar wirkt nicht innig verbunden. Ein lustvolles Öffnen der Lippen, eine vertrauensvolle Hingabe kann der Philematologe nicht erkennen. Das könnte die Deutung des großen Werks aus Klimts sogenannter Goldenen Phase in ein ganz anderes Licht rücken. Ist der Kuss geraubt? Vielleicht gar erzwungen? Vielleicht bleibt bei einem solchem Kuss nur eine Variation von Goethes Wort: Halb zog er sie, halb sank sie hin. So ist es mit dem Kuss: er wird gegeben und genommen. Doch wie dem auch sei, Liebende, so sagte Romy Schneider einmal, wollen sich raffiniert lieben und küssen ohne End! 

 Zeichnung und Orginal Gemälde "Der Kuss" von Gustav Klimt

 

Quellen

Natter, Tobias: Gustav Klimt. Köln, 2018.
Sternthal, Barbara: Diesen Kuss der ganzen Welt.
Leben und Kunst des Gustav Klimt. Wien, 2005.
Pellech, Christine: Gustav Klimt: Die Goldene Periode. Greiz, 2017.
Montandon, Alain: Der Kuss. Berlin, 2006.
Spitzer, Manfred: Küssen, rein wissenschaftlich.
In: Naturheilkunde 2011; S. 953–959
Besonderer Dank an Horst Wenzel, Geschäftsführer mit Leib und Seele
Für Mehr Liebe im Leben – FlirtUniversity.de